Bodenstein Coaching

“FRAU MERKEL BEFREITE UNS AUS DEM TSCHECHISCHEM GEFÄNGNIS”

INTERVIEW MIT NOUR UND MOHAMMED

(Aufgrund der teilweise vorhandenen Sprachbarriere wurden Satzbau und Wortwahl vom Autor gelegentlich angepasst)

Die Brüder Nour (22) und Mohammed (20, auf dem Titelbild) sind im Herbst 2015 aus einer kritischen Kriegssituation von Syrien nach Deutschland geflohen.

Nach ihrer turbulenten Flucht und anschließendem Bürokratiemarathon nutzten sie die Chance und begannen ein neues Leben im „Land der Regeln“.

Katharina Bodenstein

Lieber Nour, lieber Mohammed, mittlerweile lebt Ihr 3,5 Jahre in Deutschland- zuvor war Syrien Eure Heimat. Erzählt uns einmal direkt zu Beginn, welche Fluchterinnerungen Euch am stärksten in den Köpfen geblieben sind.

Nour: Als mein Bruder Mohammed und ich unser Herkunftsland Syrien verließen, waren wir gerade einmal 19 und 17 Jahre alt. Für uns war klar, dass wir in unserer Heimat keine vernünftige Zukunft haben werden. Somit erschien uns –neben zahlreichen anderen Syrern- die Flucht nach Deutschland als letzte, aber vielversprechende Chance.
Unser Ziel war klar, der Weg auch- alles weitere nicht.

Über die Türkei mit dem Boot nach Griechenland wurden wir an der griechischen Grenze abgewiesen und mussten zurück in die Türkei. Einen weiteren Tag zu Fuß durch die Türkei- und bei einem erneuten Versuch endlich in Griechenland angekommen ging es weiter nach Mazedonien über Serbien bis hin nach Ungarn.

Wie habt Ihr die Wege zurückgelegt?

Nour: Zu Fuß, mit dem Zug oder mit dem Schlauchboot.
Zurück zur Flucht: Von Budapest (Hauptstadt Ungarn) führte es uns nach Tschechien- zur allerschlimmsten Phase unserer Reise. Kurz nachdem wir in Tschechien angekommen waren, wurden wir festgenommen.

Mohammed: Polizisten steckten uns in ein unterirdisches Gefängnis, welches mehrere Etagen hatte. Wenn wir richtig mitgezählt haben, waren wir im siebten Kellergeschoss. Es war stockdunkel und wir konnten nicht erkennen, mit wie vielen anderen Personen wir dort eingesperrt waren. Wir schrien die Wachen an und erklärten immer wieder aufs Neue, dass wir nicht in Tschechien bleiben wollen, sondern dass Deutschland unser Ziel ist.

Nour: Leider hat das keinen interessiert. Stattdessen fesselten sie uns mit Handschellen an die Gitterstäbe der Gefängniszellen und schlugen uns mit Schlagstöcken. Nach 11 Tagen (!) Gefängnisaufenthalt fand einer der Mitgefangenen heraus, dass in Deutschland durch Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Gesetz erlassen wurde. Mithilfe dieses Gesetzes wurden die Länder, durch welche die Fluchtroute führte aufgefordert, dort gefangen genommene Flüchtlinge (auf ihrem Weg nach Deutschland) freizulassen.

Mohammed: Wieder einmal schrien wir gemeinsam die Wachen an und wiesen unentwegt auf das neue Gesetz hin- bis ein Wunder geschah: Sie ließen uns frei! Somit können wir nun sagen:

„Frau Merkel hat uns aus dem tschechischen Gefängnis befreit“

Erst einmal vielen Dank, dass Ihr so detailliert und offen über Eure Flucht berichtet. Das waren tatsächlich schlimme Erfahrungen, die ihr gemacht habt.

Wie ging es anschließend weiter?

Nour: Uns fällt es nicht sehr leicht darüber zu reden, doch möchten wir auch den Deutschen zeigen, dass uns die Entscheidung zu fliehen nicht sehr leicht gefallen ist und wir sehr viel dafür in Kauf nehmen mussten!
Nachdem wir aus dem Gefängnis freigelassen wurden, fuhren wir mit dem Zug nach Deutschland. Über verschiedene Umwege landeten wir letztendlich in Menden (NRW).

Wie war Euer erster Eindruck von Deutschland?

Nour: Hätte uns jemand gesagt, dass Deutschland voller Bürokratie ist, hätten wir es vorher studiert. 🙂 Die Massen an Dokumenten und die allgemeine Unsicherheit gegenüber den Flüchtlingen waren auch für uns sehr anstrengend. Doch bekamen wir relativ schnell die Möglichkeit, neben unserer damaligen Tätigkeit (vermittelt durch eine „Leihfirma“) einen Deutschkurs zu besuchen.

Mohammed: Das gesamte Land besteht nur aus Regeln und Gesetzen!

Inzwischen seid Ihr beide im ersten Lehrjahr Eurer Ausbildungen zum Zerspanungsmechaniker und Hotelfachmann angekommen.
Waren dies immer Eure Traumberufe?

Nour: Erst einmal müssen wir sagen, dass das Wort „Ausbildung“ für uns ein Fremdwort war. In Syrien studieren fast alle jungen Menschen. Die deutschen Ausbildungsberufe werden in Syrien –wenn überhaupt- in einer Fachschule beigebracht oder man lernt die Tätigkeiten während der Arbeit. Inzwischen kennen wir den „deutschen Standard“ und wissen, dass Ausbildungen wichtig- und Studiengänge ohne perfekte Deutschkenntnisse sehr schwer sind. Bevor ich nach Deutschland kam, wollte ich Kieferorthopäde werden und unterbrach mein Studium für die Flucht. Der Beruf des Zerspanungsmechanikers (ich glaube, es gibt gar kein arabisches Wort dafür) war mir unbekannt, doch macht es mir sehr viel Spaß in diesem Beruf zu arbeiten. Zuerst begann ich eine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer und wurde noch während der Ausbildung aufgrund meiner sehr guten Noten zum Zerspanungsmechaniker “befördert”- heißt das so?

Mohammed: Ich hatte nie einen Traumberuf. Allerdings war ich immer schon ein guter Koch und liebte es, Menschen zu bedienen. Dass es genau auf den Beruf des Hotelfachmanns hinaus laufen würde, hätte ich im Vorfeld nicht sagen können. Uns fehlten die genauen Vorstellungen der deutschen Berufe. Inzwischen kann ich sagen, dass ich mich mit meinem Ausbildungsberuf voll und ganz identifiziere.

Hattet ihr Hilfe bei der Ausbildungssuche?

Nour: Im Herbst 2017 erhielten wir die Möglichkeit, an einem beruflichen Qualifizierungs- und Orientierungsprojekt der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK zu Hagen) teilzunehmen. Das viermonatige Projekt beinhaltete qualifizierten Deutschunterricht, eine Arbeitsphase in der Metallwerkstatt und ein Praktikum in unserem Wunschberuf. Parallel standen uns fachkundige Ansprechpartner im Rahmen einer Beratung/ Coaching zur Seite. Nach unserer Zeit in der Metallwerkstatt stellte ich fest, dass eine Ausbildung mit diesem Schwerpunkt für mich infrage kommt- es machte mir sehr viel Spaß.

Im Anschluss entstand eine Vermittlung zu dem metallverarbeitenden Unternehmen in Iserlohn, in welchem ich nun meine Ausbildung absolviere. In meinem Ausbildungsbetrieb wurde ich sehr gut aufgenommen und bin stolz, dort arbeiten zu dürfen. Mein größtes Glück war der Wechsel in die Instandhaltungsabteilung- dort habe ich viel Kontakt zu anderen Mitarbeitern, mit welchen ich am liebsten gemeinsame Lösungen entwickle.
Hätte ich die Unterstützung in Form von Coaching und anschließender Vermittlung nicht gehabt, hätte ich die Strukturen in Deutschland nicht verstanden und wäre durch meine Unwissenheit vermutlich erfolglos geblieben.

Mohammed: In der Metallwerkstatt habe ich schnell erkannt, dass mir der gewerbliche Bereich mit Schwerpunkt Metall nicht besonders zusagt und die Berufsschule zusätzlich sehr anspruchsvoll ist. Dennoch absolvierte ich mein Praktikum als Werkzeugmechaniker (mir wurde gesagt, dass ich dort gute Zukunfts- und Verdienstchancen habe) und sorgte durch mein handwerkliches Talent bei meinem Chef für Begeisterung. Daraufhin bot er mir die Ausbildung zum Werkzeugmechaniker an. Es war für mich eine schwere Entscheidung, doch lehnte ich das Angebot ab und entschied mich von ganzem Herzen für eine Ausbildung in der Gastronomie- manchmal muss man erst etwas anderes machen, damit man sieht, was man möchte. 🙂 Ohne Unterstützung wäre es auch für mich sehr schwer gewesen, eine Ausbildung zu finden- ich bin sehr froh darüber, dass ich während meiner Bewerbungs- und Praktikumsphase begleitet wurde.

Das klingt bei Euch beiden nach einem anstrengenden, aber sehr gelungenen Start in Deutschland.
Wenn Ihr in Deutschland etwas ändern dürftet, was wäre es?

Nour: Das Wetter 🙂 und die Bürokratie- viele Verfahren dauern zu lange.
Die Deutschen Behörden vergessen oft, dass es bei uns auf jeden einzelnen Tag ankommt- insbesondere wenn es um unseren Aufenthalt geht.

Mohammed: Dass die „Deutschen“ den Kontakt zu uns suchen. Wir haben zwar eine andere Kultur und sprechen vielleicht nicht perfekt Deutsch, doch benötigen wir den Kontakt zu Deutschen damit wir uns integrieren können. Dass wir oftmals auch nicht die kontaktfreudigsten sind, liegt einfach an unserer Unsicherheit.

Gab es Situationen, in denen Ihr ratlos wart?

Nour: Ja. Ich kann nicht schwimmen und möchte es gerne lernen. Somit habe ich mehrfach versucht, mich bei Schwimmkursen anzumelden. Leider waren diese Kurse nur für sechsjährige Kinder, sodass ich gemeinsam mit Erstklässlern hätte schwimmen lernen müssen. Das ist für mich eher unpassend- momentan schaue ich mich nach weiteren Möglichkeiten um.

Ihr beiden. Vielen lieben Dank für Eure offenen Worte!
Mir hat es große Freude bereitet, Euch begleiten zu dürfen und zu sehen, wie erstaunlich Ihr alle Hürden gemeistert habt und nun erfolgreich in Deutschland angekommen seid!

Zu guter Letzt noch eine Frage:

Welche Tipps könnt Ihr anderen Flüchtlingen für ein erfolgreiches Leben in Deutschland geben?

Mohammed + Nour: Damit man in Deutschland „erfolgreich“ wird, ist es wichtig, sich an die Regeln zu halten.
Außerdem legen die Deutschen viel Wert auf Pünktlichkeit. Auch wenn es den Syrern nicht immer leicht fällt- versucht, pünktlich zu sein!

Bleibt nicht nur zuhause, sondern geht raus und versucht, Menschen kennen zu lernen! Respektiert andere Religionen. Selbst wir haben uns als Muslime zu Weihnachten einen Adventskranz gekauft- ohne zu wissen wie er funktioniert.

Mohammed ergänzt augenzwinkernd: Und kommt nicht nur, wenn Ihr eine Frau kennenlernen wollt- so einfach ist das hier nicht. Die meisten deutschen Frauen sind anspruchsvoll!

Bei diesem BEST-PRACTICE-Beispiel ist zu erwähnen, dass es (in Form dieses Artikels) nicht als Grundlage für politische Diskussionen dienen soll- eher beschreibt es die Motivation junger Menschen, eine Zukunft in einem fremden Land aufzubauen und sich den unterschiedlichsten Herausforderungen zu stellen. Für mich als Coach ist es außerdem wichtig, die Komplexität der Beratungs- und auch Motivationsleistung darzustellen und für eine Begleitung eines fachkundigen Beraters zu ermutigen.

Katharina Bodenstein

© 2020 Katharina Bodenstein